Hermann Haller begegnet der Abstraktion
Der Zürcher Künstler Hermann Haller (1880–1950) ist bekannt für seine figürlichen Darstellungen. Diese entwickelte er, während viele seiner damaligen Künstlerkolleg*innen sich der Abstraktion zuwandten. Die diesjährige Gruppenausstellung «Abstrakt gedacht» im Atelier Haller lotet dieses Spannungsfeld zwischen Figuration und Abstraktion aus.
Den Fotografien, Malereien, Aquarellen und Skulpturen der derzeit im Atelier Haller gezeigten zeitgenössischen Künstlerinnen Kyra Tabea Balderer, Clare Goodwin, Sonia Kacem, Sabine Schlatter und Shannon Zwicker ist eines gemeinsam: Sie weisen gegenständliche Bezüge sowie Bezüge zur klassischen Avantgarde auf. Mehr noch, sie sind zu einem Grossteil speziell für die Ausstellung entwickelt und umgesetzt worden. Im Spannungsfeld zwischen Figuration und Abstraktion treten sie mit Hermann Hallers Frauenfiguren in einen Dialog und lassen das figurative Werk des einst berühmten Bildhauers in neuem Licht erscheinen.
Ausgangspunkt war die Überlegung, dass Hallers erfolgreichste Schaffensphase zeitgleich zu jenen künstlerischen Bewegungen stattfand, die unter anderem den Weg von der Figuration zur Abstraktion beschritten. Der Künstler stand zwar diesen Bewegungen persönlich nahe, blieb aber in seiner Arbeitsweise weitgehend unbeirrt davon und seinem klassischen Stil ein Leben lang treu. Einzig die grobe Bearbeitung der Oberflächen der Plastiken aus seiner letzten Werkphase sowie die Posen der tanzenden Figuren, die unmittelbar vom Ausdruckstanz inspiriert sind, zeugen von der Vertrautheit des Bildhauers mit der Avantgarde und lassen gewisse Einflüsse der neuen Kunstströmungen vermuten.
Bilder mit Keramik
Ausgehend von den Formen und Farben von Hallers Plastiken hat die für ihre geometrisch-konkrete Malerei bekannte Künstlerin Clare Goodwin (*1973, lebt und arbeitet in Zürich) mehrere abstrakte Gemälde aus Keramik-Fliesen komponiert. In einem zeitaufwendigen Arbeitsprozess bemalte und glasierte sie jede der selbst gebrannten Kacheln mit Farben aus ihrer persönlichen Farbpalette. Anschliessend arbeitete Goodwin intuitiv und direkt vor Ort an der Komposition der einzelnen Bilder.
Durch ihre Platzierung auf dem Boden statt an der Wand erinnern die Malereien an tiefe Sockel oder Bühnenelemente für die darauf oder daneben stehenden Figuren Hallers. Goodwin gelingt es, den Frauenskulpturen Raum zu geben und ihnen respektvoll und auf Augenhöhe zu begegnen. Weil Goodwins Bilder auch als Display für die Präsentation von Werken des Bildhauers dienen, oszillieren sie zwangsläufig zwischen Kunst und Design, wobei für die Künstlerin der malerische Moment im Vordergrund steht. Die Betrachtung der Bilder als solcher erfolgt notwendigerweise ‹von oben› und kann aus der Ateliergalerie intensiviert werden. Gerade aus dieser Perspektive zeigt sich besonders deutlich der Zusammenhang zwischen Figuration und Abstraktion, der Goodwins künstlerischem Interesse zugrunde liegt. Die Künstlerin nennt die Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur als Ausgangspunkt für die Entwicklung ihrer abstrakten Bildsprache, bei der sie bewusst mit ikonischen Formen und Motiven der Kunstgeschichte spielerisch und behutsam umgeht.
Text: Maren Brauner / Irene Grillo
Fotos: Sebastian Schaub
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