Anne-Lise Coste – No god, No boss, No husband
28. Oktober 2022 – 21. Januar 2023
Wir freuen uns sehr, Ihnen die vierte Einzelausstellung von Anne-Lise Coste in unserer Galerie zu präsentieren. Die Arbeiten in der Ausstellung stammen mit einer Ausnahme von ihrer Einzelausstellung im Kunsthaus Baselland Poem Police vom vergangenen Frühling und Sommer.
Anne-Lise Coste bat uns diesen Text aufzulegen, den sie zusammen mit Sarah Issaad geschrieben hat.
Ich bin Sarah Issaad, eine Frau afrikanischer Herkunft, die in einem westeuropäischen Land in einer Familie der gehobenen Mittelschicht aufgewachsen ist. Ich bin Anne-Lise Coste, dem Gesetz nach eine Frau, weiß und in Frankreich in eine Familie der unteren Mittelklasse geboren.
Wir möchten darauf hinweisen, dass das französische Denken rassistisch, sexistisch, imperialistisch, prokapitalistisch und weiterhin kolonialistisch ist. Wir nähern uns ihm aus demselben Blickwinkel wie auch Lilian Thuram an, der „das weiße Denken“ in seinem 2020 erschienenen gleichnamigen Buch[1] beschreibt und darin die diachronische Entwicklung eines imperialistisch-rassistisch motivierten Systems nachvollzieht, das zu den in der Gegenwart bestehenden Ungleichheiten geführt hat. Darüber hinaus stellt der Autor auch die Theorie auf, dass das Denken über den Körper hinausgeht und nicht auf ein Territorium beschränkt ist: Man kann „weiß denken“ und dennoch rassifiziert werden oder aber nicht „weiß denken“, obschon man es ist. „Weiß denken“ bedeutet, sich in eine ideologische Denkweise einzufügen, die die Vorstellung einer Hierarchie der Völker vertritt. Man muss auch nicht Franzose oder Französin sein, in Frankreich oder in frankophonen Ländern leben, um französisch zu denken, was eine Schwesterideologie des „weißen Denkens“ darstellt.
Da dieses soziale Konstrukt sowohl im Bereich des Gedachten als auch dem des Ungedachten verortet ist, reicht es schon, wenn es von einer kulturellen und wirtschaftlichen Elite der Minderheit aufrechterhalten wird, um auch weiterhin zu gedeihen und sich in der gesamten Gesellschaft zu verbreiten.
„Liberté, Égalité, Fraternité“ ist weniger eine Devise als vielmehr eine trügerische und geschlossene Ordnung, die Konkurrenzdenken, Ungerechtigkeit und eine weiße, patriarchal-christlich begründete Abgrenzungshaltung, die gleichermaßen antifeministisch und antimuslimisch, antisemitisch und anti-LGBT+ ist, aufoktroyiert und sämtlichen Körpern die Verpflichtung abverlangt, einer Norm hinsichtlich von Größe und Gewicht, sensorischen und kognitiven ebenso wie motorischen und psychischen Fähigkeiten zu entsprechen (all jenen also, denen die Labels „Pathologie“ und „Behinderung“ aufgeklebt werden).
Die Ausübung dieser Macht beginnt bereits mit dem Erlernen der Sprache: Da wäre etwa ein Französisch, das Pariser Französisch, das weiß, bürgerlich, akademisch ist. Die normative Macht der Académie française erschafft eine reduzierte und reduzierende Welt, die ganze Gruppen und soziale Realitäten unsichtbar werden lässt.
Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür ist die im Französischen geltende grammatikalische Regel, dass das Maskulinum den Vorrang gegenüber dem Femininum hat . Seit ihrer Einführung sorgt sie dafür, dass in jedem Satz das zwischen den Geschlechtern bestehende Machtungleichgewicht zuungunsten der Frauen noch bekräftigt wird. Dieselbe Akademie leugnet heute noch systemisch an Frauen begangene Verbrechen[2], indem sie sich gegen die Aufnahme des Begriffs „Femizid“ in das Wörterbuch der französischen Sprache ausspricht, obschon er doch in den Medien und der Politik schon Verwendung findet.[3] Und der französische Staat verbietet ganz einfach den geschlechtergerechten Sprachgebrauch im Bildungswesen,[4] wobei diese Schreibweise in den Behörden bereits seit 2017 untersagt ist.[5]
Im Frankreich des Jahres 2022 stellen Vorwürfe der Vergewaltigung und Nötigung auch kein Hindernis dar, um seit 2020 als Innenminister zu amtieren oder gegenwärtig zum neuen Minister für Solidarität, Autonomie und Menschen mit Behinderungen ernannt zu werden.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 in Frankreich sehen sich die Bürgerinnen und Bürger nun zum dritten Mal gezwungen, zwischen einer rechtsradikalen, militaristischen und für strenge Haftstrafen eintretenden Partei, die offen fremdenfeindlich, homophob und sexistisch ist sowie den Holocaust leugnet, und einer mehr oder weniger abgemilderten Version von ihr zu wählen.
Wir möchten darauf hinweisen, dass das kapitalistische System, das gegenwärtig den Großteil unseres Planeten beherrscht, auf all diesen Ungleichheiten beruht und sie fortführt. Da nun dieses System eine beständige Dynamik hierarchischer Strukturen zur Grundlage hat, ist seine Herrschaft über unsere kollektiven Entscheidungsfindungen in systematischer Weise auf Beziehungen der Macht begründet: jener des Mannes über die Frau, des und der Weißen über alle anderen Hautfarben, von Reichen über Arme, von Menschen über Tiere, Pflanzen, Himmel, Flüsse, Berge, Meere, Ozeane, Minerale und alles Nicht-Menschliche, was dennoch dem Bereich des Lebendigen angehört.
Wir möchten darauf hinweisen, dass die Beziehung zu allen Formen von Leben den Kern unseres Handelns ausmacht, dass sie einen lebendigen oder aber tödlichen Impuls eingibt, Öffnung oder Verschließung, Liebe oder Krieg;
Poème Police.
[1] Lilian Thuram, Das weiße Denken, übers. von Cornelia Wend, Edition Nautilus, Hamburg 2021 (Originalausgabe: La Pensée blanche, Memoire d’Encrier, Québec 2020).
[2] Die amtliche Website https://arretonslesviolences.gouv.fr/je-suis-professionnel/chiffres-de-reference-violences-faites-aux-femmes bemüht sich um eine genaue Erfassung der Art und Häufigkeit gegen Frauen gerichteter Gewalttaten. Diese nationale Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Frauen erkennt häusliche Gewalt und Mord auch als Akte „sexistischer und sexueller Gewalt“ an.
[3] https://www.franceculture.fr/societe/le-terme-feminicide-interroge-le-droit. Der von Laura Dulieu, Margot Delpierre und Éric Chaverou verfasste Artikel verweist darauf, dass der Begriff „Femizid“ nach Ansicht der Académie française nicht dem französischen Wortschatz angehöre.
[4] https://www.lemonde.fr/societe/article/2021/05/07/jean-michel-blanquer-interdit-l-ecriture-inclusive-a-l-ecole_6079436_3224.html.
[5]https://kiosque.bercy.gouv.fr/alyas/msite/view/vigie/11263#:~:text=L'%C3%A9criture%20inclusive%20est%20une,f%C3%A9minisation%20des%20noms%20de%20m%C3%A9tier.
Anne-Lise Coste (geboren 1973 in Marignane nahe Marseille, Frankreich) studierte in Marseille und in Zürich. Sie lebt, nach einem mehrjährigen Aufenthalt in New York, nun in Sète in Südfrankreich. Ihre Zeichnungen und Textarbeiten besitzen die Unmittelbarkeit von Graffiti-Kunst, und ermöglichen es ihr, subjektive Stimmungen mit politischer Kritik und literarischen Sätzen zu mischen. Ihre Arbeit ist in vielen Firmen- und öffentlichen Sammlungen vertreten, unter anderem im MACBA, Barcelona; FRAC des Pays de la Loire; Sammlung der Schweizer Nationalbank; Sammlung der Deutschen Bank. Auch befinden sich Werke von ihr in privaten Sammlungen in Europa und den USA. Sie richtete zahlreiche Einzelausstellungen aus, unter anderem vor kurzem im Kunsthaus Baselland, im Dortmunder Kunstverein, Deutschland, im CRAC in Sète und in der Salomon Fondation in Annecy, beide Frankreich.