Gespräch zwischen Klodin Erb und Sandi Paucic über die Ausstellung im Helen Dahm Museum, Oetwil am See

April 2022

SP: Klodin, als ich dich eingeladen habe zu einer Ausstellung im Helen Dahm Museum war ich inspiriert von der Einsicht, dass es zwischen deinem Werk als zeitgenössischer Kunstschaffenden und Helen Dahm als historischer Künstlerin spannende Parallelen gibt – sowohl thematisch, aber auch im Zugang zu den verschiedenen künstlerischen Medien. Die Einladung beruhte auf einer Beobachtung von Clare Goodwin, selbst erfahrene Kuratorin, welche schon öfters mit mir Dahm-Ausstellungen eingerichtet hatte in Oetwil am See. Sie hat, als ich ihr darüber erzählte, ich wolle der historischen Künstlerin eine zeitgenössische Position gegenüberstellen, ohne zu zögern dich und dein Werk ins Spiel gebracht. Das Resultat ist eine Ausstellung, welche einen Dialog zwischen deinem Werk und jenem von Helen Dahm inszeniert. Du warst mit der Kunst von Dahm davor kaum vertraut – wie geht es dir bei dieser Begegnung mit Helen Dahm über die Zeiten hinweg?

KE: Tatsächlich hatte ich das Werk von Helen Dahm nicht gekannt. Und es war für mich sehr interessant, die vielen Verwandtschaften zu entdecken – ich stellte fest, dass wir eigentlich Schwestern im Geiste sind. Darum freut mich die Einladung sehr. Herzlichen Dank. Natürlich ist Helen Dahms und mein Zugang zu Themen zeitbedingt ein anderer, es gibt aber genuine Übereinstimmungen. So zum Beispiel bei den Themen der Sexualität oder auch der Religion. Auch das Motiv der Landschaft spielt bei ihr eine grosse Rolle. Sie stellte damals, ähnlich wie ich es heute mache, die Frage, wie Malerei aussehen kann, auch innerhalb der gegebenen Genres Landschaft, Porträt, Interieur.

SP: Es ist mir aufgefallen, dass dein Werk sich vor allem über Themen entwickelt und um diese kreist. Bei Helen Dahm ist es schwierig, ihre Werke zu datieren, weil sie ihr Leben lang zu den gleichen Themen zurückkehrt, ohne sich stilistisch festzulegen.

KE: Ich bewege mich konzentrisch. Natürlich habe ich eine Handschrift, aber es geht mir nicht um die Suche nach einem stilistischen „Brand“, wie das viele versuchen. Ich selbst bin der Überzeugung: „Der ‚Brand‘ bin ich“. Ich bin die Person, die die Dinge zusammenhält und für mich ist das die adäquate Form. Das ist ein schwierigerer Weg, denn es braucht eine Bereitschaft der Kuratierenden und des Publikums, diese Zusammenhänge zu erkennen.

SP: Stell dir vor, was es bedeutet hätte, wenn Helen Dahm damals in ihrer Zeit als Frau und Künstlerin in einer freien Weise dasselbe hätte formulieren können: „Ich bin der Brand“! Es war damals unvorstellbar, dass sie sich damit neben ihren männlichen Zürcher Zeitgenossen hätte manifestieren können. Implizit hat sie sich aber eigentlich genau so verhalten mit ihrer eigensinnigen und starken Persönlichkeit und ihrem Durchhaltevermögen über mehr als sieben Schaffensjahrzehnte. Auch ihr Werk ist stark von ihrer Persönlichkeit geprägt.

KE: Für mich fiel die Entdeckung von Helen Dahm zusammen mit dem Besuch der Meret OppenheimAusstellung im Kunstmuseum Bern. Ich verorte sie ähnlich wie Helen Dahm: Oppenheims stilistisch scheinbar disparates Werk wird zusammengehalten durch ihre Persönlichkeit. Damals wurde das vielschichtige Schaffen dieser Künstlerin noch nicht breit rezipiert – hingegen wird es heute als aktuell empfunden und stösst auf grosses Interesse beim Publikum. Ich glaube das Potenzial von Oppenheims Werk ist so gross, weil sie von der Idee der Forschung ausgeht – dieses Suchen, Kreisen, das Neudefinieren im Thematischen und eben nicht nur im Formalen.

SP: Du konstatierst bei beiden etwas Zeitgemässes und weist auf das Kreisen um Themen hin, das dich, wie du sagst, auch interessiert. Lass uns im Geist ein bisschen durch die Ausstellung spazieren – sie ist ja erst in Vorbereitung – und uns die einzelnen geplanten Räume und Themen betrachten. Der Rundgang beginnt in der sogenannten Helen Dahm-Stube des ländlichen Hauses in Oetwil am See, wo normalerweise Originalmobiliar und - gegenstände aus Helen Dahms Wohnraum zu sehen sind. Du ergänzt diesen Ort der Erinnerung an Dahm durch Arbeiten und Objekte aus deiner Produktion zu einem Environment und zu einer Gegenüberstellung eurer beider Charaktere.

KE: Ich beabsichtige, das Gefühl hervorzurufen, dass wir diesen Ort gemeinsam bewohnen: Meine Fenstermalereien, Pflanzen und Objekte, die sich zu den ihren gesellen, heissen die Besucher*innen in unserer gemeinsamen Welt willkommen.

SP: Es ist ja interessant, dass du schon vor deiner Entdeckung von Helen Dahm mit Fenstermalereien experimentiert hast.

KE: Ich arbeite seit gut zwei Jahren an Versuchen mit Gemälden auf Fensterscheiben und die Ausstellung in Oetwil am See legte es nahe, das wieder aufzunehmen. Spannend ist für mich das Fenster als Membran zwischen innerer Häuslichkeit und dem Aussen, dem Öffentlichen. Diese Schnittstelle des Fensters scheint uns gleichermassen zu interessieren.

SP: Du wirst auch eine Art ‚Spiegel‘ zeigen in der Helen Dahm-Stube im Erdgeschoss des Museums.

KE: Diese Arbeit von mir ist eine Art Prinzessinnenspiegel, man kann sich aber nicht darin sehen, denn er ist wattiert, gepolstert und aus Stoff.

SP: Stoff ist ein Material, das bei Helen Dahm vor allem in ihren frühen Zürcher Jahren nach 1910 eine Rolle spielte, teilweise wurde sie von der Presse als Textilkünstlerin bezeichnet, wobei das damals im Sinne des Handwerklichen eher abwertend taxiert wurde. Wie ist dein Zugang zum Textilen?

KE: Als ich die Kunsthochschule in Zürich abgeschlossen hatte sah ich keine Möglichkeit, mich mit Malerei als Medium auszudrücken. Ich hatte einen schwierigen Start und habe alle meine Malereien damals verbrannt und alle Malmaterialien und die Keilrahmen weggegeben. Ich habe zwar weiterhin malerisch gedacht, habe Malerei-Ausstellungen besucht, habe aber dabei begonnen, mit Stoffen zu experimentieren: Es entstanden Stoff-Collagen, genähte Objekte, begehbare Environments, grosse Bilder aus Stoff – alles sehr reduziert und beeinflusst von der Minimal Art. Ich beschäftigte mich seit Mitte der 1990er Jahre mit der Stellung der Frau in unserer Gesellschaft. Ein Thema, das mir sehr wichtig ist und ich früh aufgegriffen habe. Natürlich war das Werk von Rosmarie Trockel sehr bedeutend für mich. So bin ich mit Textilarbeiten in mein Leben als Künstlerin eingestiegen und interessanterweise findet dieser Ansatz heute wieder grosse Beachtung. Neben den Textilarbeiten habe ich während etwa 10 Jahren in der Frauengruppe mit Performances realisiert. Es freut mich nun, im Helen Dahm Museum diese Textilwerke, wie etwa die Pflanzenskulpturen, wieder zeigen zu können. Zumal ich vorhabe, in nächster Zeit Stoff auch mit Malerei zu kombinieren.

SP: Helen Dahm spielte auch gerne mit dem Trägermaterial von Bildern, stellte die Frage, wo Malerei aufhört und wo etwas anderes beginnt …

KE: … genau, und wo ist der Unterschied zum Beispiel zwischen einem gemalten Bild und einer Stofftapete? Diese Fragen lote ich auch mit den Fensterscheiben-Bildern aus, um eine bestimmte Stimmung zu erreichen.

SP: Gehen wir im Helen Dahm Museum die Treppe hinauf in den ersten Stock, gelangen wir in den Raum, welchen du dem Thema der Sexualität im Werk von euch beiden widmest. Helen Dahm hatte zeitlebens ein schwieriges Verhältnis dazu und kaum die Möglichkeit, ihre lesbische sexuelle Orientierung offen auszuleben. Bei ihr ist das Thema oft mit Sünde oder biblischen Anspielungen verknüpft, es hat eine Schwere und in den oft dunklen Farbtönen etwas Belastendes.

KE: Ich lebe zum Glück in einer ganz anderen Zeit! Mein Umgang mit Sexualität und ihrer Potenz ist bei mir etwas Lustvolles. Anfänglich mag auch ich als Frau keinen einfachen Start gehabt haben in der Kunstschule. Es war in den 90er Jahren noch schwieriger für Frauen, sich einen Weg zu bahnen als heute. Das hat vielleicht auch einen gewissen Einfluss gehabt. Dennoch: Vor allem zählt, wie ich mich fühle. Ich bin ein Mensch, der sehr stark auf erotische Reflexe reagiert – sehr sinnlich – und meine Arbeit funktioniert auch entsprechend.

SP: Im Raum zur Sexualität finden wir auch eine deiner gemalten Sprechblasen, was hat es damit auf sich?

KE: Das sind gewissermassen verklausulierte Werke mit mehreren Schichten. Ich denke viel über Malerei nach und finde es spannend, wenn mehrere, auch gedankliche „Layerings“ entstehen. Diese sogenannten Emoji-Bilder sind Versuche, klassische Bildmotive in eine zeitgenössische Malereisprache zu übersetzen. Ich bin darauf gekommen, weil ich einen Bericht über einen Mord in der Zeitung gelesen habe, eine wahre Begebenheit! Der Mörder wurde dabei von der Polizei überführt, weil er ein Messer-Emoji versendet hat. Diese Reduktion der Sprache interessiert mich, auch weil es eine Universalsprache ist, die beispielsweise auch in China verstanden wird. Gleichzeitig gibt es dort Verbote. Gewisse Zeichen dürfen nicht verwendet werden, sind zensuriert. Ich habe gelesen, dass gerade in der Corona-Zeit die Zensur von Emojis verstärkt wurde in China, aber die Menschen Wege fanden, diese zu umgehen. Und vor 20 Jahren war ich in Ägypten und bewunderte die Hieroglyphen. Die Frage, wie Emojis wohl in 500 Jahren gelesen werden, finde ich spannend. Oder ist es sogar so, dass die Emojis irgendwann die Sprache ablösen werden? Vielleicht werden das dann keine Emojis mehr sein, sondern etwas anderes – vielleicht sind die Emojjs ja die Frühform einer neuen Sprache. In der alten Kunstgeschichte werden die Bild-Symbole interpretiert, um Bilder zu lesen und es gibt ganze Abhandlungen darüber, wie das funktioniert – diese Zusammenhänge haben mich zu den Emoji-Bildern inspiriert.

SP: Helen Dahm hat sich auch sehr stark, von Carl Gustav Jung herkommend, für Symbole interessiert. Und sie hat in ihren Skizzenbüchern Symbole gezeichnet und deren Bedeutungen daneben aufgeschrieben. Auf einer ganz anderen Ebene, lange vor den Mobiltelefonen waren das gewissermassen die Vorläufer der heutigen Emojis.

KE: Es scheint ganz logisch, dass sie sich dafür interessierte, denn es hat mit der Überlegung zu tun, was Bilder sind – das sind genuine Fragestellungen.

SP: Du hast von Kunstgeschichte gesprochen: Dich interessiert das Medium der Malerei auch in seiner historischen Dimension – beim Betrachten gewisser deiner Bilder ist man geneigt, an barocke Gemälde zu denken. Auch Helen Dahm hat sich für frühere Epochen der Kunst interessiert, etwa für die frühchristlichen ravennatischen Mosaike, Frühe Renaissance und ganz allgemein die historische religiöse Malerei. Natürlich galt ihr Interesse aber auch als Zeitgenossin der modernen, vor allem deutschen Malerei, oder auch dem französischen Informel der 1950er und 1960er Jahre. Wie gehst du um mit der Kunstgeschichte?

KE: Spielerisch! Seit jeher interessiert mich Kunstgeschichte aber auch das Zeitgenössische. Kunst steht im Mittelpunkt und ist meine Welt. Ich war kürzlich wieder einmal in Wien und habe einige meiner männlichen Heroes wieder besucht, die ich alle grossartig finde: Von Tizian über Caravaggio, zu den Bruegels bis Velázquez. Ich habe früher aber auch Führungen gemacht in den Hallen für Neue Kunst in Schaffhausen über Minimal Art, zu Robert Mangold und vor allem Robert Ryman. Aber auch ein Frank Stella interessiert mich. Wenn ich diese Emojis mache, dann nehme ich ja gleichermassen den Träger, einen „shaped canvas“ von Stella, gehe von der Hard Edge-Malerei aus und male dann diese kindlichen Zeichen drauf. Ich finde das Vorgehen, etwas zu nehmen und dann zu entfremden oder frech darauf zu reagieren, produktiv. Wenn ich z.B. einen „shaped canvas“ nehme und kitschige Blumen oder eine Landschaft drauf male, interessiert mich die daraus entstehende Reibung.

SP: Das Thema der Natur spielt im Werk von Helen Dahm seit der Kunstausbildung in ihren frühen Jahren eine Rolle, sei es als Landschaft oder in der domestizierten Form als Blumenstilleben. Beide Motive sind für dich ebenfalls wichtig. Gerade das Blumenstilleben ist ein sehr traditionelles Thema, wird oft verkitscht…

KE: …bei den Blumenstilleben ist es tatsächlich auch bei mir zunächst ein klassisches Motiv. Bei der Landschaft interessiert mich aber etwas ganz anderes als bei Helen Dahm, nämlich die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen. Zur Zeit von Helen Dahm gab es noch mehr Raum, heute wird dieser immer enger. Wenn ich hingegen Blumen male, ist es diese Gegenüberstellung von Materialität, die mich fasziniert: Wenn ich also Blumen auf Plastiktischtücher male, geht es darum, wie wir uns die Natur nach Hause nehmen und sie in einer kondensierten Form à la „Schmücke dein Heim“ erleben. Das ist gerade wieder sehr trendig. Auf diesen Plastikteilen zu arbeiten und auf deren Ästhetik zu reagieren, bedeutet eine Verdichtung, potenziert durch absolute Künstlichkeit. Es stellt sich die Frage, wie wir mit der Natur umgehen und auch, was Schönheit überhaupt ist. Es geht mir jedenfalls, vielleicht anders als teilweise bei Dahm, nicht um das Abbild.

SP: Bei Dahm kommt ja die Abstraktion zu einem späten Zeitpunkt, als sie 80 Jahre alt ist, ins Spiel. Inspiriert von Tachismus und Informel beginnt sie mit „Drippings“ und den „Gitterbildern“. Dieser Ansatz beschäftigt sie, neben allem anderen, das sie weiterverfolgt, bis zu ihrem Tod 1968. Du bewegst dich selbst auch locker zwischen den Welten des Gegenständlichen und des Ungegenständlichen.

KE: Ich habe das Glück, in einer Zeit zu leben, wo das alles wie eine Klaviatur zur Verfügung steht. Diese Fülle haben wir simultan zur Verfügung, ebenso wie die Kunstgeschichte – es ist eine Art Alphabet. Ich reagiere seismografisch auf gesellschaftliche Zustände, Probleme oder Freuden und suche innerhalb dieser Klaviatur, oder dieses Alphabets, die passende Form.

SP: Die Ausstellung schliesst im letzten Raum den Kreis zum ersten, wo es um Helen Dahm und dich als Persönlichkeiten geht. Er ist dem Selbstporträt gewidmet. Du hast speziell für diese Ausstellung ein Gemälde geschaffen mit einem Doppelbildnis von dir und Helen, wo du deine „Schwester im Geiste“ umarmst und ihr deine Hand auf die Schulter legst. Du zeigst aber in diesem Raum, wo auch das berühmte Hinterglas-Gemälde „Selbstbildnis mit den Seifenblasen“ von Dahm zu sehen ist, ein ganz anderes Selbstporträt von dir.

KE: Die Idee zu dieser Gegenüberstellung von Selbstbildnissen im letzten Raum fand ich so entzückend, weil sich auch Dahm wie ich mit Puppen, Marionetten und Masken auseinandergesetzt hat. Ich zeige nicht nur das gemalte Doppelporträt, sondern habe eigens einen Musik-Film produziert, in welchem ich singe und als Figur agiere und dabei eine riesige Maske trage. Vermutlich hatte Dahm das Gefühl, dass sie mehrere Personen in einer war - wie ich auch!

April 2022, www.helen-dahm.ch

Fotos: Yves Rother, Zürich

Previous
Previous

Sehnsucht nach Golfspielen im Skulpturenpark

Next
Next

Annelise Zwez: “Mit grossem Gewinn bin ich nach Oetwil am See gefahren, wo das Helen Dahm-Museum «Zwei Dahmen» zeigte, Helen Dahm und Klodin Erb im Dialog.”