Ein Farbenweber

Von Adina Rieckmann

Ohne Tizian, ohne den „Zinsgroschen“, dem berühmten Werk in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister, hätte es vielleicht diese große Ausstellung mit Werken von Slawomir Elsner im Museum Wiesbaden nie gegeben. Elsner suchte sich dieses Motiv für seine Serie „Imaginäres Gedächtnis“ aus und schuf diesen „Zinsgroschen“ neu – auf seine ganz eigene Weise. Seine Interpretation ist mit einem Maß von 75 mal 56 Zentimetern exakt so groß wie das Original. Das gehört zum Konzept und ist allerdings das einzige an offensichtlichen Gemeinsamkeiten. Statt der Ölfarbe, die Tizian auf einer Pappelholztafel auftrug, greift der 1976 in Polen geborene Künstler zu Buntstift und Papier. Er zeichnet dieses ikonische Werk nicht einfach nach, er konzentriert es auf dessen Licht- und Farbeindruck, hinterfragt die Regie des Lichts und die Komposition der Farben. Ganz nebenbei stellt er mit seinem „Zinsgroschen“ unser konditioniertes kollektives Bildgedächtnis auf die Probe. 143 Gemälde von Dürer, Cranach, Tizian bis hin zur Klassischen Moderne hat der in Dresden nicht unbekannte Künstler bereits für seine Serie auf den Prüfstand gestellt. 14 dieser Buntstiftzeichnungen sind nun in der großen Ausstellung „Slawomir Elsner – Präzision und Unschärfe“ im Hessischen Landesmuseum Wiesbaden zu sehen.

„Ja, ohne Tizian hätte ich Slawomir Elsner nicht kennengelernt,“ meint Museumsdirektor Andreas Henning und erzählt, wie ihn sofort der präzise und mit spitzem Stift gezeichnete „Zinsgroschen“ in den Bann zog. „Elsner ist ein Farbenweber. Es ist dieses Farbgewebe, mit dem er Lichtregie und Farbgebung geradezu beschwört. Das habe ich so noch nicht gesehen.“ Diese verschwommene Erinnerung an die Originalvorlage fasziniert ihn bis heute. Ausgerechnet dieser Tizian aber ist in Wiesbaden nicht zu sehen. Stattdessen habe man sich für Tizians Dresdner „Farbenhändler“ entschieden, so Henning, der einstige Kurator für italienische Kunst bei den Alten Meistern. Denn der Renaissancekünstler thematisiert hier die Frage nach der Wirkungskraft der Farbe mit seinen Mitteln, was Elsner natürlich stark interessieren musste.

15 Jahre lang war der promovierte Kunsthistoriker für den „Zinsgroschen“ und die anderen italienischen Meisterwerke der Dresdner Sammlung zuständig, begeisterte dort mit spannenden Ausstellungen und mit geistreichen Führungen durch die Gemäldegalerie. Nun also ist er Direktor des Museums in Wiesbaden und bereut keine einzige Sekunde, im März 2020 Dresden verlassen zu haben. Er sagt: „Alles hat seine Zeit. Ich habe nach einer neuen Freiheit für meine Arbeit gesucht, um mich auch wieder der Moderne und zeitgenössischen Kunst zuwenden zu können. Jetzt lebe und arbeite ich in einer Stadt, in der ich bei sehr vielen Menschen eine innere Gelassenheit wahrnehme, die ich so aus Dresden nicht kenne, weder im Kunstbetrieb noch in der Stadtgesellschaft. Dieses Beisichsein genieße ich sehr, auch weil es Kräfte freisetzt.“ Auf die Frage, was den ausgewiesenen Raffael-Experten an dem Landesmuseum reize, kommt sofort eine Antwort: „Alles!“ Henning schiebt hinterher: „Wiesbaden ist eine Stadt der Klassischen Moderne. Wir haben die weltweit bedeutendste Jawlensky-Sammlung in öffentlicher Hand. Gleichzeitig beherbergen wir eine der hochkarätigsten Jugendstilsammlungen, von den großartigen abstrakten Arbeiten nordamerikanischer Künstler ganz zu schweigen. Dazu komme eine beispiellose naturkundliche Sammlung, die ebenfalls auf einen ästhetischen, also sinnlichen und emotionalen Zugang setzt. Allein dafür lohnt sich der Weggang aus Dresden.“ Das Museum Wiesbaden jedenfalls habe das Potenzial, bis in die Gegenwart inspirieren zu können, und das in dem äußerst attraktiven Umfeld des Rhein-Main-Gebiets. Die beiden Sammlungsschwerpunkte Kunst und Natur würde er auch deshalb in Zukunft noch enger verzahnen wollen. „Das ist doch eine echte Chance, dass wir uns als Museum immer wieder in aktuelle Fragen der Gegenwart einbringen. Nur so können wir als Ort der Reflexion fungieren,“ sagt er auch noch.

Nun also zeigt Andreas Henning in seiner ersten von ihm kuratierten Ausstellung in Wiesbaden die erste große museale Schau von Slawomir Elsner. Der Künstler, der seit vielen Jahren auch von der Dresdner Galerie Gebr. Lehmann vertreten wird, füge sich mit seinen knapp 50 Werken und einer 20-teiligen Fotoserie, erzählt er, wunderbar in das Haus ein. Die Werkserie „Just Watercolors“ zeuge von einer weiteren Meisterschaft des Wahlberliners. Diese ungegenständlichen farbund lichtintensiven Aquarelle würden von innen heraus leuchten. Das Leuchten aber komme durch unzählige monochrome oder mehrfarbige Schichten, durch die das Licht, das durch das Weiß des Papiers reflektiert wird, hindurchscheine und einzigartige luminöse Farbräume schaffe, all das auf außergewöhnlichen Großformaten. „Mit seiner außergewöhnlichen zeichnerischen und malerischen Qualität, verbunden mit einem hochreflexiven Ansatz, halte ich Elsner für eine wichtige Stimme in der zeitgenössischen Kunst. Ich freue ich mich sehr, dass er den Ritschl-Preis erhalten hat und wir ihn mit dieser Ausstellung ehren können. Es war ein Glück, dass wir beide uns in Dresden vor dem Tizian getroffen haben. Sonst hätten wir als Museum vielleicht nie diese imaginären Jawlenskys zeigen können“, erzählt Henning und verweist auf die „Spanierin“ und das „Selbstporträt des Künstlers“ aus der eigenen Sammlung. Auch hier hinterfrage Elsner den Abbildungscharakter der Gemälde, auch hier bei diesen Ikonen des Museums müsse der Betrachter seine Sehgewohnheiten überprüfen. So gilt auch hier: Die Spanierin und das Selbstporträt von Alexej Jawlensky faszinieren Strich für Strich.

Sławomir Elsner, Selbstbildnis, 2021 (nach Alexej von Jawlensky, 1912, Museum Wiesbaden) Courtesy of the artist und Galerie Gebr. Lehmann, Dresden ABB.: SEBASTIAN_SCHOBBERT


bis 6. März. Landesmuseum Wiesbaden,

Friedrich-Ebert-Allee 2, geöffnet

Di+Do 10-20 Uhr, Mi+Fr 10-17 Uhr,

Sa+So 10-18 Uhr, montags geschlossen

Internet: museum-wiesbaden.de


Dresdner Neueste Nachrichten, Donnerstag, 17. Februar 2022

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